Autor | Regina Mengel | |
Buchtitel | Wunden der Zeit – Auf dem Rücken des Nordwinds | |
Genre | Urban Fantasy | |
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Eine Leseprobe aus der Mitte des Buches:
Köln am Montag, 07. Oktober 1968, 05.30 Uhr
Anna gähnte. Lydia blickte zu ihr hinüber und nickte ihr zu. „Kinder, lasst uns abbrechen für heute. Wir sollten ein bisschen schlafen, ich kann kaum noch klar denken.“
Fünf Minuten später saßen Lydia und Anna allein in dem Zimmer.
„Viel haben wir nicht erreicht“, sagte Lydia. Als sie Annas Besorgnis bemerkte, fügte sie hinzu: „Mach dir keine Gedanken, wir stehen noch am Anfang. Immerhin – der Verein ist geschlossen dabei. Die halten zusammen, wie Pech und Schwefel, du wirst schon sehen. Alles geht gut aus.“
Anna seufzte. Sie verriet Lydia nicht, dass diese Sorge für den Augenblick in den Hintergrund trat, angesichts dessen, was ihr nun bevorstand. Tatsächlich fürchtete sie nichts mehr, als Annemaries Familie zu begegnen. Im Hause von Heiden sollte niemand wissen, was der Tochter widerfahren war. Bei aller Aufgeklärtheit, es schien undenkbar, dass Eltern und Bruder die Nachricht gelassen hinnähmen.
Entschlossen sprang Anna auf, wenn sie nicht bald Schlaf bekäme, fiele sie um. Als Lydia anbot, sie nach Hause zu fahren, nahm sie dankend an.
Die Wohnung der von Heidens lag im Dunkeln. Anna schlich sich hinein in ein zu Hause, das nicht das ihre war. Merkwürdigerweise fühlte sie sich gleichzeitig fremd und daheim. Sie kannte die Wohnung, in ihrem Inneren schlummerten Bilder wie Fotos in einem Fotoalbum, leicht vergilbt, jedoch wohlbekannt.
Sie warf einen Blick in die Küche, die Teller für das Frühstück standen bereit, Besteck und Servietten lagen daneben. Jeden Abend deckte die Mutter den Tisch, dann ging es morgens schneller. Das Familienoberhaupt musste in aller Frühe aus dem Haus. Anna schaute auf die Uhr, sie zeigte beinahe sechs. Bald schon stünden die Eltern auf. Anna fühlte sich nicht bereit, den beiden entgegen zu treten.
Selbst bei einer wohlwollenden Schätzung konnte das Bett maximal einen Meter breit sein. Auch was die Matratze anging, für Annas Geschmack zu weich, konnte es dem Vergleich mit ihrer gewohnten Liegestätte nicht standhalten. Anna zog die Knie an und rollte sich auf die Seite. Das war ein Tag gewesen, aufregend, anstrengend und ungewiss. Und wenn sie aufwachte, lägen nur noch vier Tage vor ihr, um das Rätsel zu lösen.
Bis auf eine Sache, hatte sie dem Hexenzirkel alle Geheimnisse erzählt. Doch zum absoluten Vertrauen hatte es nicht gereicht. Sie scheute die Reaktion, wenn sie ihnen offenbarte, dass mit dem Ablauf der Frist, ihr eigener Tod beschlossen war. Dieses Geheimnis wollte sie nicht mit ihnen teilen. Damit musste sie allein fertig werden. Das machte es nicht leichter, doch ihr blieb keine Wahl.
Mit geschlossenen Augen lag Anna da, sie wartete auf den Schlaf. Doch trotz der Schwere ihrer Glieder wollte er sich nicht einstellen. Immer wieder kreisten die Gedanken um die Worte, die Apollon zu ihr gesagt hatte. „Deine Zeit läuft ab, am 11. Tag des Oktobers, exakt 13 Minuten und eine Stunde nach dem Mittagsschlag, denn zu dieser Stunde und an diesem Tag erstarb deine Seele vor vielen Jahren.“
Das klang endgültig.
Der Albtraum, den Anna so gern vergessen hätte, schob sich heran. Ihr Herz raste, sie hörte die Stimmen, sie schmeckte den Schmutz und Stacheldraht bohrte sich in ihre Unterarme.
Anna tatstete nach den zerschundenen Armen. Erleichtert stellte sie fest, dass die Haut unversehrt war. Richtig, sie steckte nicht im eigenen Körper. Auch das machte ihr Angst. Es war so schnell gegangen, dass ihr keine Zeit geblieben war, die Situation in Ruhe zu durchdenken. Nun lag sie in einem fremden Bett und wartete auf den Schlaf.
Irgendwann musste sie eingeschlafen sein. Als sie die Augen aufschlug, schien Tageslicht durch den Vorhang. Ein Sonnenstrahl erhellte ein Foto auf dem Nachttisch. Wie von einem Fingerzeig geleitet, wurde Annas Blick von dem Bild angezogen. Sie setzte sich auf und nahm den Rahmen in die Hand. Die kleine Gruppe von Menschen wirkte glücklich.
Sie standen Hand in Hand, in der Mitte der Vater, stolze ein Meter neunzig, mit einem grauen Anzug, der wie maßgeschneidert saß. Das Strahlen im Gesicht der Mutter schien den Rest der Familie zu umarmen. Rechts und links hatte der Fotograf die Kinder platziert. Annemarie trug ein fliederfarbenes Minikleid mit einem tief sitzenden Gürtel, die dunklen Locken sorgfältig zusammengebunden. Wäre nicht das schiefe Grinsen und der Harlekin in ihren Augen, hätte ein spießiger Eindruck entstehen können. Die freche Natur setzte sich in ihrem Bruder auf der anderen Seite fort. Auch er trug einen Anzug, wirkte aber lässiger darin, als der Vater.
Das also war ihre Familie, ihre Eltern Karla und Franz von Heiden und der große Bruder, Rolf, zwei Jahre älter als sie. Ein Blick auf die Uhr verriet, dass sie nicht länger im Bett bleiben konnte. Nur zu gern hätte sie sich dort verkrochen und vor der Welt versteckt. Doch bereits in drei Stunden fand das Treffen der Hexen im Wohnheim statt.
Anna schlüpfte in die Filzpantoffeln. Neben dem Bett stand ein Kleiderschrank und in der Zimmerecke hing ein nierenförmigen Spiegel mit breitem Rand. Darin betrachtete sie sich nun. Sie erfreute sich an der Glätte ihrer Haut, Annemarie war immerhin elf Jahre jünger als sie. In dem Babydoll kam die Taille gut zur Geltung. Nur die Puschen passten nicht ins Bild. Anna drehte sich vor dem Spiegel und bewunderte die dellenfreien Beine. So sähe sie selbst nie wieder aus. Sie seufzte und machte sich auf den Weg ins Badezimmer.
Hellgelbe Fliesen bedeckten die Wände. Ein Standfuß trug die Klosettschüssel. Es gab keinen Spülkasten, sondern eine Drückergarnitur, die direkt auf der Wand saß. Vor der Schüssel lag ein Läufer und die Toilettenbrille umhüllte braunes Frottee. Das Waschbecken wirkte klobig. Eine Badewanne, in der sich allerhöchstens ein Kleinwüchsiger hätte lang machen können, rundete die Einrichtung ab.
Nachdem sie geduscht und sich und den Fliesenboden abgetrocknet hatte, huschte Anna zurück in ihr Zimmer. Auf dem Flur begegnete sie der Mutter. „Kind bist du krank? Ich habe um zehn einmal nach dir gesehen, da hast du fest geschlafen. Du bist doch sonst nicht so eine Langschläferin.“
„Nein, nein Mutti“, die ungewohnte Anrede ließ sie zögern, „es ist alles in Ordnung. Es ist ziemlich spät geworden gestern, da musste ich ein wenig nachholen.“
Hoffentlich spürte Karla von Heiden Annas Unsicherheit nicht. Doch nichts dergleichen geschah, stattdessen nahm Karla die Tochter in die Arme. Anna erschrak und verkrampfte sich. Sie durfte sich nichts anmerken lassen, sie biss die Zähne zusammen und richtete ihre Aufmerksamkeit auf die Atmung, um den Körper zu entspannen.
Zum Glück löste Karla die Umarmung bald und schob Anna mit einem Klaps auf den Hintern durch die Tür.
„Husch, zieh dich an. Papi und Rolf kommen gleich zum Mittagessen heim.
Hast du Hunger?“
„Hmm“, murmelte Anna.
„Na na“, rügte die Mutter. „Sprich in Sätzen und nicht mit diesem Gebrummel.“
„Ja, ich habe Hunger“, rief Anna schnell.
Wenn schon kleine Dialoge derartige Fallen boten, wie sollte sie dann ein gemeinsames Mittagessen überstehen?
Während sie sich anzog, durchforstete sie Annemaries Erinnerungen. Gute Vorbereitung war die halbe Miete – hoffentlich erwies sich dieser Sinnspruch als richtig.
Ein Gong ertönte, das Zeichen, dass das Mittagessen bereit stand. Die Familie versammelte sich um den Tisch. Franz von Heiden schnitt einen Schweinebraten an, während seine Frau Kartoffeln und Soße auf die Teller häufte. Solche Mengen hatte Anna das letzte Mal bei ihrer verstorbenen Großmutter gesehen.
„Das ist genug.“
„Aber Kind, du musst ordentlich essen, wo du so fleißig studierst. Früher hätten wir uns gefreut, wenn wir so etwas Gutes bekommen hätten. Aber in den schlechten Zeiten da gab es nichts.“
„Ja, die Geschichte kennen wir. Damals gab es nur Brennnessel-Suppe und schimmeliges Kommissbrot“, warf Rolf ein.
„Mach dich nicht lustig“, sagte die Mutter, doch sie lächelte dabei.
In Annas Kindheit waren die Familienessen stumm verlaufen. „Beim Essen wird nicht gesprochen.“ Alle hatten auf die Teller gestarrt und nur hin und wieder war ein Messerkratzen durch die Stille gebrochen.
Im Haushalt der von Heidens ging es anders zu. Solch ein lebendiges Miteinander hatte sich Anna immer gewünscht. Sie starrte in die Runde und staunte über das Geplapper und Gelächter und den liebevollen Umgangston. Rolf erzählte Witze aus der Uni und der Vater berichtete von einem neuen Kollegen, der einen Sprachfehler hatte und wie ein Chinese das R nicht richtig aussprach. Auch die Mutter hatte viel zu erzählen, Begegnungen beim Einkaufen, welche Briefe der Postbote gebracht hatte, und, und, und. Anna hörte zu und lachte hin und wieder, sprach selbst jedoch wenig.
„Du sagst ja gar nichts heute“, Franz von Heiden beugte sich zu ihr hinüber und legte seine Hand auf die ihre. „Was ist denn los? Bist du traurig?“
„Nein“, versicherte Anna, „nur müde.“ Sie lächelte ihn gewinnend an.
„Du weißt, du kannst jederzeit zu uns kommen, wenn du ein Problem hast.“
Der Vater drückte Annas Hand.
„Oder bist du etwa verliebt?“ Er zog die Augenbrauen hoch. „Kann ich mich endlich auf einen Schwiegersohn freuen? Es wird ja langsam Zeit, dass du unter die Haube kommst. Bist ja schon fast eine alte Jungfer“.
Empört widersprach die Mutter. Es bildeten sich zwei Fronten und bald behakten sich Männer und Frauen.
Anna genoss das Geplänkel, sie konnte sich nicht erinnern, jemals ein fröhlicheres Essen erlebt zu haben. Sie entspannte sich und ließ das Misstrauen zur Ruhe kommen. So ein Spaß, erst jetzt spürte sie, welchen Verlust sie erlebt hatte. „Vielleicht wäre alles anders gekommen, wenn Papa sich nicht umgebracht hätte“, überlegte sie. Doch andererseits war ihre Mutter die treibende Kraft gewesen, früher oder später hätte er ihr nachgegeben.
Anna schüttelte die düsteren Gedanken ab und widmete sich dem Tischgespräch. Sie kamen bei der Nachspeise an. Es gab Vanille-Koch-Pudding aus der Tüte und dazu Himbeersirup. „Du Annemarie?“, Rolf stupste an ihr Knie. „Was war denn los heute Nacht, du warst ja ziemlich spät zu Hause. Oder sollte ich lieber sagen, ziemlich früh?“
„Nichts Besonderes, ich habe mit Lydia gelernt.“
„Gelernt, bis in dir frühen Morgenstunden?“ Rolf fragte weiter und brachte Anna in Erklärungsnot. Stotternd beharrte sie darauf, gelernt zu haben. Sie fühlte sich wie eine in die Ecke gedrängte Katze, deren Herrchen mit dem Tragekorb bereit stand, um sie einzufangen.
Rolf folgte Anna in das Mädchenzimmer. Im Gegensatz zu den Eltern wusste er, dass Annemarie dem Hexenzirkel angehörte. Er hatte die Gruppe als harmlos bezeichnet und kein Interesse daran gezeigt. Doch heute schien er sich für Annemarie verantwortlich zu fühlen.
„Hat dein Ausbleiben mit dem Zirkel zu tun? Kommst du klar oder brauchst du Hilfe? Du weißt, ich bin sofort da, wenn dir irgendein Pfeifenkopf quer kommt. Musst nur ansagen.“ Anna bemühte sich, ihn zu beruhigen. Dennoch zog sich das Gespräch weitere zehn Minuten hin. Rolf stellte viele Fragen, ob irgendetwas Besonderes passiert sei, etwas Ungewöhnliches oder Neuartiges, ob sie neue Hexensprüche ausprobiert hatten und wie die Treffen der Hexen grundsätzlich abliefen. Sein Wissensdurst irritierte Anna.
Endlich hörte er mit der Fragerei auf und sie atmete durch. Lange hätte sie dem Verhör nicht mehr standgehalten. Schon jetzt war es ihr kaum gelungen, schlüssige Antworten zu geben.
Ob er etwas ahnte? Doch woher sollte Rolf von der Religion der gebundenen Zeit wissen oder von Annas Seelenreise. Ratlos saß sie auf dem Bett und dachte nach.
Wahrscheinlich war es Zufall. Er machte sich Sorgen. So war das mit älteren Brüdern.
Alles nur ein Zufall.
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Vielen Dank für die Aufnahme der Leseprobe. Schöne Seite. Liebe Grüße Regina
Ich wünsche Dir viel Erfolg