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Die Kiste der Krise von Niels Rudolph


Autor Niels Rudolph
Buchtitel Die Kiste der Krise
Genre Fantasy Satire
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Shop-Link Die Kiste der Krise

5. Lange Bärte und kurze Prozesse

Es war bereits später Nachmittag, als eine Handvoll Matrosen die Gerridae mit Stangen vom Kai abstieß, nachdem Hafenarbeiter die Halteleinen gelöst und aufs Deck des Schiffes geworfen hatten. Langsam trieb es auf die Mitte der Bucht zu und ein kleines, dreieckiges Segel am vorderen Mast wurde gesetzt, mit dessen Hilfe das Schiff durch die Enge der Klippen manövriert wurde.

Wulfhelm fuhr das erste Mal in seinem Leben auf einem richtigen Schiff und war voller Erwartungen und Vorfreude, aber auch angespannt und nervös. Harika schien es ähnlich zu ergehen, dennoch war sie um Längen lockerer als bei ihrer Fahrt im Dampfwagen.

Der Leuchtturm thronte hoch über ihnen auf der Klippe und vermittelte das Gefühl für die eigene, unbedeutende Größe. Wulf fühlte sich beklommen und winzig, als er zum Turm hoch sah. »Die Aussicht von dort oben muss großartig sein.«

Als die Gerridae das offene Meer erreichte, wurden alle Segel gesetzt und es ging in gemächlichem Tempo entlang der Küste nach Südwesten. Wulfhelm suchte aufmerksam die Steilküste nach einem Zeichen für den heimischen Zaubererturm ab, musste jedoch schnell einsehen, dass es noch Stunden dauern mochte, bis sie ihn passierten. Also saßen die drei Passagiere bald in der Messe und versuchten, sich besser kennenzulernen.
»Ihr seid der erste Zwerg, den ich sehe, der keinen langen Bart trägt«, sagte Harika gerade.
Falgrim tastete mit der Hand über seine Bartstoppeln und ein schmerzhafter Ausdruck huschte über sein Gesicht.
»Das ist auch noch nicht lange so«, begann er, »denn bis vor Kurzem hatte ich einen prächtigen Bart, den ich zu zwei dicken Zöpfen geflochten trug.«
»Was ist denn passiert?«, wollte Wulfhelm wissen.
»Ich geriet in eine Notlage, als ich gerade dabei war, die Pyramide in den Bergen weit östlich von Salzhausen zu untersuchen.«
»Eine Pyramide in Ardavil?« Der Zauberer sah erstaunt auf. »Seltsam, nicht wahr? Das dachte ich mir auch und entschloss mich dazu, dieses Bauwerk einer genaueren Untersuchung zu unterziehen. Die Pyramide befindet sich ganz nahe an der kleinen Insel im Nordosten des Landes, auf dem ein seltsames Volk hausen soll. Vielleicht sind sie die Erbauer denn die Insel war ja einst mit dem Festland verbunden.«
»Dann hätte dieses Volk ja schon vor dem Urknall existiert und wäre mindestens ebenso alt wie die Elfen!«
»Und die Zwerge«, fügte Falgrim mit erhobenem Zeigefinger hinzu. Die Zwerge nutzten gern jede sich bietende Gelegenheit, um herauszustreichen, dass sie sich für das älteste Volk auf Scherben hielten.
»Und die Zwerge«, wiederholte Wulf gefällig, »aber die Insel ist doch ziemlich klein für ein ganzes Volk, oder?«
»Stimmt. Umso mehr spricht für ihren präapokalyptischen Ursprung. Vielleicht gibt es weitere Spuren von ihnen auf anderen Scherben.«
»Die Pyramide«, erinnerte Harika, deren Sinn eher nach einer abenteuerlichen Erzählung, denn nach langweiligem Gelehrtengewäsch über die Entstehung der Welt, war.
Die Kriegerin wurde etwas düpiert von Zwerg und Zauberer angesehen, die gerade Fahrt für herrlich historische Debatten und glorreiche Grundsatzdiskussionen aufnahmen.
»Was?«, fragte Harika entrüstet. »Kommt schon. Eine Prise weniger Geschichtsbuddelei, dafür mehr Spannung, Abenteuer und Bart!«
»Diese Pyramide steht also einsam und allein inmitten der Berge in einem großen, bewaldeten Tal …«, begann der Zwerg erneut.
»Wie habt Ihr von der Pyramide erfahren?«
»Bald-Zeitung«, entgegnete Falgrim knapp und holte tief Luft, um fortzufahren, wurde aber schon wieder von Wulf unterbrochen.
»Und erneut stellt sich die Frage, was zuerst da war. Die Nachricht oder das Ereignis? Hat die Bald vorhergesehen, dass Ihr zu der Pyramide reisen wollt, von der Ihr ja gar nichts wusstet? Oder habt Ihr erst durch die Zeitung von der Pyramide erfahren und seit aufgrund des Artikels dorthin gereist?«
»Wulfhelm!«, schimpfte Harika und sah den Zwerg entschuldigend an. »Das macht er dauernd! Er ist wie besessen von diesem Blatt und der Huhn oder Ei Frage.«
»Kein Problem und außerdem ein sehr interessanter Einwand. Tatsächlich wusste ich nichts von der Pyramide, bis ich davon las, also konnte die Bald eigentlich nicht voraussehen, dass ich sie untersuchen würde. Andersherum hätte ich den Artikel nicht lesen können. Aber natürlich ist die Nachricht immer vor dem Ereignis da – rein auf den zeitlichen Ablauf bezogen – sie sieht es ja voraus. Doch ich verstehe, was ihr meint. Den Ursprung, die Initialzündung, die den Stein ins Rollen bringt …«
»Der Bart, der Bart!«, rief Harika und warf theatralisch die Hände in die Luft.
»Ähm ja … Wo war ich? Ich stand also vor dieser Pyramide in dem Tal und suchte nach einem Eingang. Sie ist nicht besonders groß, müsst ihr wissen. Nicht so, wie man es von den Pyramiden in den Südlanden hört. Aber es ist immer noch ein gewaltiges Bauwerk. Ich bin eine Seite abgelaufen und kam auf eine Länge von sechzig Schritten.«
»Potztausend, das ist nicht gerade klein«, staunte Wulf.
»Ohne Euch zu nahe treten zu wollen, Falgrim. Doch sechzig Eurer Schritte sind vielleicht dreißig meiner Schritte«, gab Harika zu bedenken.
»Ich sagte ja, sie ist nicht besonders groß. Es war aber kein Zugang zu entdecken. Die Flächen der Pyramide waren ganz sauber aus gewaltigen Steinquadern errichtet. Nichts deutete auf den Zweck des Gebäudes hin, und ob es überhaupt etwas im Inneren gab. Dass sich jedoch jemand die Mühe gemacht haben sollte, einfach so einen riesigen Haufen Steine aufeinanderzuschichten, hielt ich für sehr unwahrscheinlich. Ich machte mich also auf die Suche und schloss die nähere Umgebung mit ein. Unweit der Pyramide fand ich ein Gebäude im Wald, in dessen Inneren ein dunkler Brunnenschacht war. Da ich keine weiteren Anhaltspunkte sah, beschloss ich den Schacht hinabzusteigen.«
»Macht Ihr so was öfter? Es ist doch gewiss ziemlich riskant, so ganz ohne Begleitung in finstere Löcher zu klettern.« Offenbar hatte Harika nun die Rolle übernommen, den Zwerg in seiner Erzählung zu unterbrechen.
»Manchmal ist es aber gerade diese Begleitung, die einen erst in Schwierigkeiten bringt. Manche Dinge wecken Begehrlichkeiten in anderen Personen, die dazu führen, das Schlechteste in ihnen zum Vorschein zu bringen. Wenn es möglich ist, arbeite ich daher lieber allein.«
»Verstehe. Wie ging es weiter?« Die Kriegerin stützte das Kinn auf ihre Hände und hing gebannt an den Lippen des Zwergs.
»Ich band ein langes Seil draußen an einen Baumstamm und sicherte damit meinen Abstieg, meine Helmlaterne sorgte für ein wenig Licht. Der Schacht war eng und von Moos überwuchert. In etwa fünf Schritten Tiefe führte ein niedriger Gang in Richtung der Pyramide. Der Schacht führte weiter hinab in die Dunkelheit, aber ein geworfener Stein plumpste nach kurzem Fall ins Wasser, so dass ich mir einen weiteren Abstieg ersparte. Ich fragte mich, welchen Zweck dieser Gang erfüllte, denn selbst ich konnte nicht aufrecht darin gehen. Als ich dem leicht ansteigenden Korridor folgte, gelangte ich ins Innere der Pyramide, wo die Gänge sehr viel geräumiger waren. An den Wänden waren auf jedem freien Stein Malereien zu sehen, hauptsächlich primitive Bilder, Schriftzeichen und Zahlen. Diese Galerie bildete ein perfektes Quadrat um das Zentrum des Bauwerks und jeweils mittig in jedem Korridor führte ein Gang zum Herzen der Pyramide. Was auch immer hierin verborgen lag, musste dort zu finden sein.« Falgrim legte eine Pause ein, um seine Worte wirken zu lassen und einen Schluck Wasser zu trinken.
»Was war es!«, verlangte Harika schließlich zu wissen.
»Geduld …«, lächelte der Zwerg. »Ich begab mich also ins Herzstück der Pyramide und fand eine Kammer mit einem Podest in der Mitte, auf dem eine goldene Skulptur ruhte. Sie war etwa eine Elle hoch und musste ein Vermögen wert sein. Auf einem runden, goldenen Sockel, der von zwei grünen Ringen aus Jade unterteilt war, stand ein Mensch mit über den Kopf ausgebreiteten Armen. Hinter dem Mann schien die Figur wehenden Stoffbahnen nachempfunden zu sein und darüber thronte eine große Kugel. Ich konnte die Falle förmlich riechen, welche die Skulptur umgab und suchte in meiner Ausrüstung nach einem Gegenstand, der in etwa dem Gewicht der Statuette entsprach. Einen Fuß hoch aus massivem Gold … Das Ding musste echt schwer sein. Ich bemerkte auch die feinen Ritzen im Podest, auf dem die Figur stand. Ich wollte sie also blitzschnell gegen ein Teil mit dem gleichen Gewicht tauschen, damit ich die Falle nicht auslöste.« »Sehr schlau«, pflichtete Harika ihm bei.
»Leider hatte ich nichts bei mir, was diesem Gewicht entsprochen hätte. Am Schwersten waren wohl mein Fausthammer und meine getreue Streitaxt, aber die ist ein Familien-Erbstück«, Falgrim tätschelte die seltsame Klinge an seiner Seite. »Ich nahm also meinen Meißel und brach ein großes Stück Sandstein aus dem Gemäuer. Ich schätzte und wog, bearbeitete das Stück und schätzte wieder. Schließlich hielt ich einen Steinblock in Händen, der mir das richtige Gewicht zu haben schien. Innerhalb eines aufgeregten Herzschlags hatte ich den Stein gegen die Skulptur ausgetauscht, als das Unglück über mich hereinbrach.«
»Was ist passiert?«, fragten Harika und Wulfhelm wie aus einem Mund.
»Betrug! Verrat! Abscheuliche Täuschung ehrlicher Schatzjäger! Das Ding war hohl und federleicht. Die Platte im Sockel senkte sich ab und es klickte Unheil verkündend. Im nächsten Moment surrten mehrere Pfeile aus Löchern in der Wand. Mit einem Hechtsprung versuchte ich aus der Nähe des Podestes zu kommen, als auch schon ein gewaltiges Axt-Blatt von der Decke schwang und den Sockel spaltete, wo ich gerade noch gestanden hatte. Die Pfeile schwirrten dicht an meinem Gesicht vorbei und zu allem Überfluss sah ich, wie sich die Eingänge langsam schlossen. Ein Mechanismus zog im Boden versenkte Steinwände nach oben; bereits zu hoch, um sie noch überspringen zu können. In einer Nische entdeckte ich eine Winde, auf die sich eine starke Kette aufwickelte, und stürmte darauf los, in der Absicht die Mechanik aufzuhalten. In der gebotenen Eile nahm ich das Erste, was mir in die Hand kam, oder besser, was sich bereits darin befand: die unselige Skulptur. Es gelang mir, damit die Winde und die Kette zu verkeilen. Die Steinblöcke stoppten. Es war auch noch genug Platz, um sie zu erklettern und die Kammer zu verlassen.«
»Puh, da habt Ihr aber Glück gehabt.« Harika atmete hörbar auf und stutzte dann: »Das kann jedoch nicht das Ende der Geschichte sein. Was ist mit dem Bart?«
»Ganz recht. Das ist noch nicht das Ende, dazu komme ich nun. Als ich mich gerade dem Ausgang zuwenden wollte, machte es ein Geräusch, als wenn ein Harnisch zerdrückt wird und mit einem Ruck lief die Winde wieder los. Dabei muss sich irgendwie mein Bart in der Kette verfangen haben und wurde nun aufgespult. Alles Zurren und Zerren war vergebens und mein Kopf wurde immer dichter zur Winde gezogen und zweifellos bald von der Kette zerquetscht, wenn es mir nicht gelang, mich zu befreien. Ich zog meine Axt aus dem Gürtel und begann, meine geliebten Zöpfe abzusägen, ja, ich glaube so kann man es nennen. Für einen kurzen, schnellen Axthieb fehlte mir der Platz. Ich weiß nicht, ob Ihr je versucht habt mit einer Axt etwas zu schneiden. Das ist ziemlich mühselig und zudem sehr schmerzhaft, wenn es an die Manneszier geht. Als ich endlich freikam, dachte ich mein Gesicht würde in Flammen stehen. Mir blieb aber keine Zeit weiter darüber nachzudenken, denn die Winde drehte sich unablässig weiter und langsam wurde der Türspalt schmal. Erbstück, oder nicht, ich nahm die Axt zum Verkeilen und suchte dann meinen Hammer, den ich unvorsichtigerweise mit dem Meißel auf dem Podest liegen gelassen hatte.

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