Gastautorin  (co) TIna M. – mit einer ihrer bezaubernden Geschichten:

Der Besuch

Wieder einmal neigte sich ein Tag dem Ende entgegen. Es war spät geworden. Zeit also sich in die Federn zu werfen. Kaum hatte mein müder Körper Berührung mit dem Bett genommen, als meine Augen auch schon zufielen und ich mich in Morpheus Armen befand. Der liebe Gott des Schlafes schickte mir klaro gleich per Himmelspost einen Traum. Wie sollte es auch anders sein! Wieder mit Clodsack, dem Sittich und meinem Freund Jürgen.

Jürgen stand gerade in der Küche und schälte Kartoffeln, als es an der Haustür schellte.
„Nanu, Clodsack, wer kann das denn sein? Wir erwarten doch keinen Besuch!“ Clodsack, der kleine Sittich meines Freundes schüttelte sein Köpfchen, als wollte er sagen: „Du, wenn du wissen willst, wer da ist, dann brauchst du nur die Tür zu öffnen!“ Aufseufzend legt Jürgen das Schälmesser zur Seite, wischt sich die Hände an seiner Hose ab. Die schon oft diese Behandlung erfahren hatte, denn sie sah dementsprechend aus. Voller Fettflecken und wenn man genau hinschaute konnte man feststellen, was Jürgen so gegessen hatte. Der Tomaten-fleck vorne an der Hose schien relativ frisch zu sein. Was einem zu der Annahme verleiten konnte, dass es am Vortag Nudeln mit Tomatensoße gab. Jedenfalls Jürgen säuberte die Hände an der Hose und begibt sich zur Haustür. Wobei ihn Clodsack begleitet. Vor der Tür steht seine Tante Trude, die ältere Schwester seiner Mutter: „Na, endlich! Ich steh mir ja schon die Beine im Bauch!“ Dabei drängt sie Jürgen zur Seite und betritt die Wohnung. Verdutzt schließt mein Freund die Tür und folgt der Tante ins Wohnzimmer, die sich dort seufzend in den Sessel sinken lässt und die Beine weit von sich streckt. „Ah, das tut gut! Sag mal, willst du deiner alten Tante nichts zu Trinken anbieten?“ Wortlos begibt sich Jürgen in die Küche und schenkt der Tante ein Glas mit Apfelsaft ein. Clodsack ist bei Tante Trude im Wohnzimmer geblieben. Während ihr Neffe in der Küche hantiert, sieht sich Trude in dem Zimmer um. Missbilligend wackelt sie dabei ab und zu mit ihrem Kopf, wobei ihre Perlenohrringe, sehr zur Freude des kleinen Sittichs, lustig auf und ab hüpfen. „Das der Junge auch  immer so unordentlich sein muss! Möchte wissen, wann er zuletzt Staub gewischt und die Pflanzen gegossen hat.“

In der Tat! Die Zimmerpflanzen meines Freundes sahen wirklich erbärmlich aus und der Staub lag meterdick auf der Anrichte. Gerade als die Tante sich bücken will, um einen Blick unter das Sofa zu werfen, kehrt Jürgen mit dem Getränk zurück. Ein Glück für ihn, denn sonst hätte Trude die schmutzigen Socken gefunden, die Clodsack so gerne unter dem Sofa versteckt. Wobei man zur Ehrenrettung des kleinen Sittichs sagen muss, dass es sich hierbei immer nur um den linken Socken seines Herrchens handelt. Den rechten überlässt Clodsack großzügig Jürgen, der sich über den seltsamen Sockenschwund mehr als wundert. Aber mal einen Blick unter das Sofa zu werfen, darauf kommt Jürgen nicht. Also wäscht er unverdrossen nur die rechten Socken und da alle seine Socken die Farbe Schwarz haben, war es ihm relativ wurscht, wo sich die Linken befanden. Gierig nimmt Tante Trude einen Schluck Apfelsaft. Als sie das Glas auf den Wohnzimmertisch abstellt hüpft Clodsack auf das Glas und beugt sich, so weit es ihm möglich ist, vor. Nach einer kleinen Weile kommt er wieder hoch, wirft das Köpfchen leicht in den Nacken und schluckt. Mjam, lecker! Besser als das Wasser aus dem Hahn in der Küche, welches Herrchen ihm immer in sein Trinknäpfchen tut.


„Junge, du musst Peterle meinen Kanarienvogel eine Weile zu dir nehmen. Ich fahre nämlich in zwei Tagen mit meinen Damen vom Wrestling Verein für eine Woche weg!“ Jürgens Tante hatte sich mit ihren fast siebzig Jahren dem Wrestling verschrieben und trainierte nun einmal die Woche fleißig in der Halle des Vereins mit einigen anderen älteren Damen. Ja, die liebe Tante Trude war auf Zack! Im Gegensatz zu ihrem Neffen Jürgen, der nicht all zu viel von sportlichen Betätigungen hielt. Mein Freund lässt sich auf das Sofa fallen: „Ich soll deinen Vogel nehmen? Wohin wollt ihr denn fahren?“ Bevor Trude antworten kann hat sich der kleine Sittich auf ihre linke Schulter gesetzt und zieht mit allen Kräften am Perlenohrring. Vor Schmerz schreit Jürgens Tante auf und hüpft wie ein junger Spund aus dem Sessel. Erschrocken über diese Aktion fliegt Clodsack schnell auf den Kopf meines Freundes und krallt sich dort in dessen Föhnfrisur fest. Aber das scheint wohl auch keine gute Idee gewesen zu sein, denn sein Herrchen springt nun ebenfalls wie die Tante aus dem Sofa und fuchtelt zu allem Überfluss noch mit den Armen in der Luft herum. Nun aber hat Clodsack den Schnabel voll. Ihm reicht es! Können sich die Menschen nicht benehmen?

Der kleine Sittich breitet die Flügel aus und beschließt in die Küche zu fliegen. Wenn er Glück hat, dann liegen dort auf dem Küchentisch noch ein paar schmackhafte Brötchenkrümel vom heutigen Frühstück herum.
„Dieser verflixte Vogel“, schimpft Jürgens Tante. „Das Vieh hätte mir beinahe mein linkes Ohr abgerissen. Kannst du Clodsack nicht anständig erziehen?“
Jürgen verdreht die Augen und schweigt. Was soll er Tante Trude auch sagen! Das der Vogel nicht zu erziehen ist, weil Clodsack nämlich seinen eigenen kleinen Kopf hat. Im Gegensatz zu Peterle, Trudes Kanarienvogel, der ein Ausbund an Gehorsamkeit ist und keinerlei Unfug macht. Schließlich hatte Trudes Vogel die berühmte Schule von Herrn Dr. Pieps besucht. Der gute Mann hatte es sich zur Aufgabe gemacht Vögeln „Benimm und Kultur“ nahezubringen. Peterle hatte den Besuch in der Schule mit Bravour bestanden. Sein Prüfungsdiplom hing, damit jeder es auch sofort sehen konnte, eingerahmt im Wohnzimmer direkt über dem Kamin.
„Warum sagst du nichts? Findest du das Verhalten von Clodsack etwa in Ordnung?“ Trude hatte wieder im Sessel Platz genommen und blickte ihren Neffen entrüstet an. Mein Freund, der gerade dabei war seine Haare mit Hilfe eines Kammes in Ordnung zu bringen, zuckte nur mit den Schultern. Aber das hätte er besser nicht tun sollen, denn nun fing Trude an zu brüllen, dass die Wände wackelten. Ihr könnt mir glauben, wenn Jürgens Tante ihre Stimme erhob, dann nahmen selbst die größten Hunde Reißaus. Clodsack, der gerade auf dem Küchentisch dabei war die Tüte mit den Brötchen zu öffnen, fiel vor Schreck um.

Der kleine Sittich lag auf dem Rücken, die Beinchen hoch in der Luft und sein Herz trommelte wie wild. Sein Herrchen war in Gefahr. Er musste ihn unbedingt retten. Clodsack rappelte sich hoch flatterte, so schnell es seine Flügel zuließen, ins Wohnzimmer zurück und stürzte wie ein Pfeil auf Tante Trude zu, dabei kreischte er aus Leibeskräften. Trude schrie vor Schreck auf, als Clodsack sie angriff. „Zurück, kusch, weg, lass mich in Ruhe!“ Aber der kleine Sittich ließ sich nicht verscheuchen. Im Gegenteil! Er flog nach oben auf die Gardinenstange. Überblickte kurz die Lage  und flog erneut auf die Tante zu. „Verdammt eins nochmal! Jürgen, bring endlich dieses Ungetüm zur Raison!“ Trude hatte sich mittlerweile unter dem Wohnzimmertisch verkrochen und meinte auf dieser Weise vor den Angriffen von Clodsack sicher zu sein. Aber weit gefehlt! Mit einem gekonnten Gleitflug landete der Sittich auf dem Teppich und hüpfte auf Trude zu.Jürgen, der die ganze Zeit wie eine Salzsäule dastand, denn so er seinen Vogel noch nie erlebt, ging auf die Knie und versuchte Clodsack einzufangen. Aber der kleine Sittich war flink und wich geschickt den Händen meines Freundes aus. „Clodsack komm her! Was ist denn in dich gefahren? Lass die Tante in Ruhe!“ Aber Clodsack dachte nicht im geringsten daran, der Aufforderung seines Herrchens nachzukommen. Er flog auf den Rock von Tante Trude und spuckte ihn voll. „Igitt, das ist ja eklig“, entsetzte sich Tante Trude. „Du verdammtes Vieh! Ausgerechnet meinen besten Rock musst du mir beschmutzen.“ Clodsack spuckte nochmal und ließ gleich danach eine kleine Wurst auf den guten Rock der Tante fallen. Befriedigt besah sich der Kleine sein Werk. So, der hatte er es aber gegeben. Tante Trude würde sicher nie mehr sein Herrchen anbrüllen. Clodsack machte es sich auf dem Rock bequem und fing voller Inbrunst an zu jubeln. Diese einmalige Chance nutzte Jürgen aus und fing seinen Vogel ein. „Sag mal, bist du verrückt geworden? Kannst du mir mal erklären, was das Ganze sollte?“ Clodsack schaute Jürgen aus seinen schwarzen Augen an und piepste. „Am Besten bringe ich dich für heute in deinen Käfig damit du nicht noch mehr Unfug anstellen kannst!“ „Tu das und zwar sofort“, pflichtete Tante Trude bei, die versuchte rückwärts auf allen Vieren unter dem Tisch hervorzukriechen. Dass sie dabei nicht gerade damenhaft aussah, könnt ihr euch denken. Jürgen reichte ihr hilfreich die linke Hand. Mit der anderen hielt er ja Clodsack fest. Tante Trude zog sich am Arm ihres Neffen hoch und verließ das Zimmer. Augenblicke später hörten Jürgen und Clodsack im Bad Wasser rauschen.

„So, und dich verfrachte ich jetzt in deinen Käfig. Dort kannst du über deine Untaten nachdenken, mein Lieber!“ Mein Freund blickte den kleinen Sittich streng in die Vogelaugen und ging in sein Arbeitszimmer, wo der Käfig von Clodsack stand. Nachdem er den Sittich in den Käfig getan hatte, kehrte er ins Wohnzimmer zurück. Wenige Minuten später gesellte sich auch seine Tante wieder zu ihm. Auf ihrem Rock befand sich ein riesengroßer Wasserfleck.

Ein lautes Geräusch weckte mich. Mein Nachbar über mir war aus seinem Bett gefallen und fluchte laut vor sich hin. Leider konnte ich seine zornigen Worte nicht verstehen, da er ziemlich undeutlich sprach. Sicher war durch den Sturz sein Kopf in Mittleidenschaft gezogen worden. Ein Blick auf meinen Wecker zeigte mir an, dass es erst drei Uhr morgens war. Viel zu früh, sein warmes Bett zu verlassen.

Tina M. veröffentlich auch bei Peo.de


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